Michael Tsokos: Der beruflich mit dem Tod hantiert

Michael Tsokos

Was für manchen Arzt ein Fachgebiet darstellt, beschreibt den Beruf des Gerichtsmediziners als Ganzes. Denn sie müssen mit allen Bereichen vertraut sein: Pharmakologie, Toxikologie, Anatomie, um nur ein paar zu nennen. Und sich hier stetig mit den neusten Methoden weiterbilden. „Genau das macht den Job so spannend“, sagt Prof. Dr. Michael Tsokos, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité. Und auch nach seinem Arbeitstag lässt Tsokos die Leichen nicht hinter sich. Nach einer Reihe von Sachbüchern verfasst er inzwischen erfolgreich True-Crime-Thriller, basierend auf wahren Fällen – seinen Fällen. Im Interview gibt er Einblick in das Berufsbild und sein neustes Werk „Zerrissen“.

Redaktion:Herr Professor Tsokos, wodurch wurde Ihr Interesse für den Beruf geweckt? Wie war Ihr Werdegang?

Prof. Michael Tsokos: Nach der Bundeswehr hatte ich die Wahl, Jura oder Medizin zu studieren. Für beide Fächer hatte ich einen Studienplatz. Hier entstand bereits die Schnittstelle zur Gerichtsmedizin. Im Studium selbst war ich zunächst nicht auf Rechtsmedizin fokussiert. Denn mir hat alles Spaß gemacht. Jedes Fach war spannend und ein potenzieller Beruf für mich.

Das Aha-Erlebnis kam dann schließlich bei der Rechtsmedizin. Zum Ende des Studiums wurde mir klar, dass hier alles zusammenläuft. Sozusagen ein Schmelztiegel aller medizinischen Disziplinen.

Ich dachte mir, dass ich hieran vermutlich mein ganzes Berufsleben lang Interesse haben könnte, was sich schließlich bewahrheitet hat.

Redaktion: Welche Voraussetzungen sind für den Job entscheidend?

Prof. Michael Tsokos: Einige der Leichen sehen kaum noch aus wie Menschen. Gerade bei hohen Sommertemperaturen, in denen sie oft mehrere Tage in der Wohnung liegen. Die Fäulnis ist hier weit fortgeschritten. Damit kann man umgehen, oder eben nicht. Den Geruch finde ich beispielsweise noch immer abstoßend, komme aber damit klar. Man muss ein durch und durch empathischer Mensch sein

Wir müssen uns in die Angehörigen hineinversetzen können. Ich mache meine Arbeit auch, damit sie die wahren Umstände kennen und mit ihrer Trauerarbeit beginnen können.

Der Gerichtsmediziner muss sich bewusst sein, dass vor einem die Leere Hülle eines Menschen liegt, der bis vor ein paar Tagen noch jemandem etwas bedeutet hat, ein Leben und eine Familie besaß. Ein gewisses Maß an Demut ist daher wichtig.

Fachlich ist zudem die Bereitschaft entscheidend, mit der Medizin und neuen Methoden zu gehen. Außerdem müssen Rechtmediziner sehr flexibel im Denken sein. Über den Tellerrand hinausschauen und offen für Selbstkritik sein. Es gibt viele verschiedene Differenzialdiagnosen, die oft zum Ausgangspunkt zurückführen. Zu erkennen: Wo bin ich falsch abgebogen und welche Befunde fehlen mir noch? Es muss gedacht werden wie ein Internist. Gerade das macht den Job aber auch so spannend.

Redaktion: Können Sie und ein theoretisches Beispiel hierzu geben?

Prof. Michael Tsokos: Angenommen, es wird jemand mit einer Kopfverletzung tot vor einem Gebäude gefunden. Der Mensch kann aus dem zweiten Stock gefallen, gestoßen oder gesprungen sein. Genauso könnte er auf der Straße von einem Auto angefahren worden sein.

Redaktion: Was sind denn die Risiken für den Gerichtsmediziner?

Prof. Michael Tsokos: Hier handelt es sich hauptsächlich um Infektionskrankheiten. Allerdings nicht COVID-19 – das war zu Anfang eine Fehleinschätzung des RKI. Völliger Irrsinn übrigens, da gerade bei neuen Krankheiten untersucht werden muss, welche Organe betroffen sind, et cetera. Eine anerkannte Berufskrankheit ist stattdessen Tuberkulose. Diese ist wieder auf dem Vormarsch. Besonders durch Länder ohne Impfung wie beispielsweise Osteuropäische Länder. Tuberkulose ist ansteckend. Auch bei Leichenöffnung zählt sie zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten.

Es ist auch ein Irrtum, dass es Leichengift gibt. Zur Grundausrüstung gehören zudem Handschuhe, Mundschutz und Schutzbrille. Selbst Tod durch Vergiftung wäre nicht übertragbar. Natürlich gibt es Fälle, in denen Leichen mit Polonium vergiftet werden und dadurch radioaktiv sind. Hier strahlt auch noch der Leichnam. Derartige Fälle betreffen allerdings eher Thriller als unsere Gerichtsmedizin.

Redaktion: Was war der ungewöhnlichste Fall, den Sie je auf dem Tisch hatten?

Prof. Michael Tsokos: Eine schwierige Frage, da ich bereits viele ungewöhnliche Fälle hatte. Ein Fall ist allerdings bis heute nicht geklärt worden und beschäftigt mich nachhaltig: Ein Mann wird vor ein paar Jahren, während des Sommers in Berlin, vollständig bekleidet, sterbend auf einer Parkbank gefunden. Bei der Untersuchung in der Klinik stellen die Ärzte Verbrühungen am ganzen Körper fest. In Folge dessen verstirbt der Mann. Er hatte eine leere Thermoskanne dabei, die Menge Wasser hätte aber für die Massivität der. Die Kleidung war zudem komplett trocken. Es ist nie geklärt worden, wie sich der Mann die tödlichen Verbrühungen zugezogen hat. Ein Mord ist unwahrscheinlich. Ich wohne in der Nähe des Fundortes und frage mich bei jedem Vorbeifahren, was wohl passiert ist.

Redaktion: Sie sind nicht nur Mediziner, sondern auch Autor. Woher stammen die Ideen für Ihre Romane?

Prof. Michael Tsokos: In meinen Romanen behandle ich meine Fälle. Also wahrhaftig True-Crime. Wenn ein Journalist sich einem Kriminalfall aus den USA annimmt und diesen in abgewandelter Form wiedergibt, ist das in meinen Augen nicht True-Crime. Entsprechende Bücher können nur Leute vom Fach schreiben. Also Rechtsmediziner, Kriminalbeamte oder Profiler. Natürlich wandle ich in meinen Fällen Zeit und Ort ab. Auch um der Dramaturgie Willen. Im Nachwort meiner Bücher steht dann immer geschrieben – selbstverständlich anonymisiert – welche Fälle als Grundlage dienten.

Redaktion: Können Sie uns einen Ausblick auf Ihr neues Buch geben?

Prof. Michael Tsokos: Mein neues Buch stammt aus der Reihe, über den Rechtsmediziner Fred Abel. In Teil vier befindet er sich in einer besonders prekären Situation: Er erstellt ein Gutachten im Fall einer Kindesmisshandlung – angelehnt an wahre Begebenheiten. Das Oper des Falles ist die Nichte einer Arbeitskollegin. Es entstehen Spannungen zwischen den Protagonisten, die zu Gunsten der Ermittlung wieder zu einem Team werden müssen. Die Randermittlungen zu Clankriminalität und Drogenhandel werden letztendendes auch zu einer privaten Bedrohung für Fred Abel.

Redaktion: Als jemand, der tagtäglich mit dem Tod konfrontiert ist. Inwieweit haben Sie sich Gedanken zu Ihrem eigenen Ableben gemacht?

Prof. Michael Tsokos: Selbstverständlich hoffe ich aber möglichst lange gesund zu leben und einen friedlichen Tod zu sterben. Die eigene Bestattung ist mir ziemlich egal. Denn ich weiß vermutlich besser als manch anderer, dass danach nichts mehr ist. Die Entscheidung überlasse ich daher meiner Familie. Wenn man wie ich mit dem Tod zu tun hat, macht man sich mehr Gedanken über das Leben.

Titelbild: © Helmut Henkensiefken

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Prof. Dr. Michael Tsokos

ISBN: 978-3-426-52549-4 [D] € 14,99 / [A] € 15,50 Ebook: 978-3-426-45745-0, 12,99 €
Prof. Dr. Michael Tsokos leitet seit 2007 das Institut für Rechtsmedizin an der Berliner Charité. Er ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Hier untersuchte er zahlreiche Fälle, darunter auch einige mit großer medialer Präsenz. So die Terroropfer des Berliner Breitscheidplatzes oder den Fall Gerwald Claus-Brunner. Tsokos True-Crime-Thriller sind allesamt Bestseller und teils bereits verfilmt. Am 1. Oktober 2020 erscheint sein neues Buch, „Zerrissen“ im Knaur Verlag.