Anemone Zeim hat in Hamburg Eimsbüttel einen besonderen Ort geschaffen: „Vergiss Mein Nie“. Es ist „ein Ort, wo Trauer stattfinden darf. Überkonfessionell, ohne Floskeln – einfach so, wie es jeder Mensch persönlich braucht.“ Mit welchen ungewöhnlichen Methoden Anemone und ihr Team versuchen, die Welt der Trauerbegleitung zu verändern, erklärt sie uns im Interview.
Redaktion: Anemone, was macht Ihr bei „Vergiss Mein Nie“?
Anemone Zeim: Das ist gar nicht so leicht zu sagen, weil wir viele verschiedene Dinge machen. Ursprünglich haben wir uns überlegt, was eigentlich bei Trauer hilft. Die ewig selben Trauerkarten in Beige und Grau konnten es nicht sein. Deshalb haben wir uns die Frage gestellt, warum man in der Trauer nicht sinnlich sein kann. Warum nicht auch Design und schöne Farben? Das hat uns gefehlt. Denn wenn etwas schon schlimm ist, dann soll es doch wenigstens schön gestaltet sein. Über diese Idee kamen wir darauf, dass das einzige, was nach dem ganzen Beerdigungszirkus bleibt, die Erinnerung an die verstorbene Person ist.
Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass es ein enormes Bedürfnis danach gibt, Trauer erklärt zu bekommen. Aber nicht religiös oder pathetisch, sondern bodenständig und grundlegend. Beispielsweise danach zu fragen, wann Trauer aufhört. Warum es einem so schlecht geht. Aber auch in den Austausch mit anderen zu gehen. Wie geht es ihnen? Was glauben sie, wie es nach dem Tod weitergeht? Auch dafür soll „Vergiss Mein Nie“ der Schauplatz sein. Denn Trauer ist ja kein unerforschter Berg. Es gibt Gesetzmäßigkeiten, bestimmte Regeln und Dinge, die allen passieren und die jeder durchmacht. Und das muss man einfach mal kommunizieren, frei nach dem Motto: „Mehr Wissen macht weniger Angst“.
Redaktion: Insgesamt spielt bei Euch Kreativität ja eine zentrale Rolle. Wieso?
Anemone Zeim: Offenbar ist die Kombination aus Trauer und Kreativität bisher noch nicht weit verbreitet. Dabei ist Kreativität total hilfreich. Wir vermitteln, wie man sie nutzen kann, um mit seiner Trauer zu kooperieren. Denn es geht nicht darum, die Trauer zu bewältigen. Trauer ist nun mal da, die verschwindet auch nicht einfach. Es geht darum mit dem Zustand, den man nun hat, so gut zu kooperieren, wie es geht. Und zwar lebenswert zu kooperieren.
Redaktion: Was genau ist Trauerbegleitung überhaupt? Wie kann ich mir das vorstellen?
Anemone Zeim: Oft bedeutet Trauerbegleitung, die Leitplanke an der Straße zu sein. Wir sorgen dafür, dass die Leute nicht von der Straße abkommen. Oder bringen sie wie der ADAC mit einem Starterkabel wieder in Schwung. Denn ganz wichtig: Jeder Mensch hat die Voraussetzungen selber gut zu trauern. Aber manchen Leute fehlt das richtige Umfeld, die Ressourcen oder die kulturelle Prägung. Die sind dann total verloren. Etwa bei extrem schwierigen Trauerfällen oder starken Traumata.
Oft kommt die Trauer auch nicht unmittelbar, da sind die Betroffenen wie ferngesteuert, gerade bei einem Schock. Und haben anfangs gar keinen Zugang zu ihren Emotionen. Oder die Trauer hält länger an. Sodass das Umfeld dann kein Verständnis mehr hat, da die Katastrophe aus deren Sicht schon „verjährt“ ist. Übrigens: Die Halbwertszeit für Katastrophen ist ungefähr sechs bis acht Wochen. Die Trauerbegleitung gibt den Trauernden genau den Raum, um diese Emotionen auszuleben und auch die benötigte Hilfestellung, um im Alltag wieder klarzukommen.
Redaktion: Das heißt es gibt auch Raum für die „schwierigen“ Emotionen, wie beispielsweise Wut?
Anemone Zeim: Auf jeden Fall. Wütend zu sein ist vollkommen okay, aber zu Hause die Wut rauszulassen, ist natürlich schwierig. Weil du gar nicht weißt, was sie mit dir macht. Der Klassiker ist, dass jemand reinkommt und anfängt zu weinen. Und dann sagt, dass das ja so peinlich sei und sich dafür entschuldigt. Aber genau bei uns ist der richtige Ort dafür. Wie und wo denn, wenn nicht hier. Mit diesen Gefühlen arbeiten wir. Und oft kommt es dann vor, dass die Leute ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie den Abstand zu der Person vergrößern, die nicht mehr da ist.
Redaktion: Und dann ist die Zeit für Erinnerungstücke?
Anemone Zeim: Exakt. Und es hilft dann, wenn du jemanden hast, der kuratiert welche Geschichten für die eigene Zukunft wichtig sind. Was habe ich von dem Menschen, der nicht mehr da ist, gelernt, was mir für die Zukunft hilft? Das sind die grundsätzlichen Fragen, die sich die Trauernden dann beantworten müssen.
Redaktion: Und wie genau sieht das dann aus?
Anemone Zeim: Wir machen die Leute kreativ und zwar nicht, indem wir ihnen jetzt mal Stricken beibringen. Sondern Kreativität bedeutet einfach eine Lösung zu finden für Probleme, die keiner hat und für die es keine Blaupause gibt. Die Menschen halten sich für unkreativ, aber das stimmt überhaupt nicht. Wir finden jeden Tag Lösungen für Probleme. Eine Mutter, die berufstätig ist und Kind und Job vereinbaren muss. Unerwartete Herausforderungen im Job. Oder so etwas banales wie ein Zugausfall. Diese Fähigkeit sollen die Menschen bei uns nutzen und selbst etwas aus Andenken herstellen.
Redaktion: Welchen Effekt hat dieses „selbst Machen“?
Anemone Zeim: Die händische Arbeit ist genau der Moment, wo du eigentlich die Kontrolle und Handlungsfähigkeit zurück gewinnst. Denn Andenken gehören dir ja eigentlich nicht. Aber wenn du sie durch deine Hände transformierst, wirst du zu ihrem Besitzer. Und bist nicht mehr bloß der Museumswärter, der ein Erinnerungsstück verwahrt.
Redaktion: Hast Du da ein Beispiel?
Anemone Zeim: Ich erzähle immer gerne die Geschichte einer Kundin. Sie hatte einen Pullover von Ihrer Oma, den sie selbst gestrickt hatte. Der war eigentlich schon außer Form geraten und lag nur im Weg. Wegschmeißen konnte sie ihn aber nicht. Sie hat ihn dann mitgebracht, ihn aufgetrennt und einen Schal daraus gestrickt. Das klingt total simpel, hat aber eine wahnsinnige Wirkung. So konnte sie die positive Erinnerung an ihre Oma in ihr eigenes Leben integrieren. Und genau darum geht es.
Redaktion: Vielen Dank für die Einblicke, Anemone!
Anemone Zeim: Sehr gerne, jederzeit!
Titel- und Beitragsbild: ©Anemone Zeim
[…] Mit dem Thema Trauer beschäftigt sich auch Anemone Zeim. In Hamburg Eimsbüttel hat sie einen besonderen Ort geschaffen: „Vergiss Mein Nie“. Es ist „ein Ort, wo Trauer stattfinden darf. Überkonfessionell, ohne Floskeln – einfach so, wie es jeder Mensch persönlich braucht.“ Mit welchen ungewöhnlichen Methoden Anemone und ihr Team versuchen, die Welt der Trauerbegleitung zu verändern, erklärt sie uns im Interview. […]
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