Dr. Simon Schindler: „Wir müssen die Bedrohung durch den Tod ständig in Schach halten“

Simon Schindler erklaert im Interview unsere Beziehung zum Tod aus Sicht der Wissenschaft
Simon Schindler

„Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht.“ Epikur

Der Tod ist, entgegen der Aussage Epikurs, ein zutiefst menschliches Phänomen. Deswegen haben sich Literatur, Kunst und natürlich auch die Wissenschaft immer wieder mit ihm beschäftigt. Trotzdem scheinen wir ein schwieriges Verhältnis zu dem Thema zu haben. Obwohl der Tod unweigerlich am Ende jedes menschlichen Lebens steht und somit eigentlich selbstverständlich ist. Wie kann das sein? Warum fürchten wir den Tod? Und welchen Einfluss hat das auf unser Verhalten? Darüber haben wir mit Dr. Simon Schindler gesprochen. Der Sozialpsychologe forscht an der Universität Kassel zu genau diesen Phänomenen.

Redaktion: Herr Schindler, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung intensiv mit dem Thema „Tod“ und seinem Einfluss auf den Menschen und sein Verhalten. Wie sieht dieser Einfluss genau aus?

Dr. Simon Schindler: In der Wissenschaft ist dieser Einfluss am besten im Rahmen der sogenannten „Terror-Management-Theorie“ untersucht. Diese Theorie geht davon aus, dass der Tod erst einmal eine Triebfeder für menschliches Verhalten generell ist. Also ein großer Motivator in unserem Leben. Und „Terror“ deshalb, weil wir eigentlich leben wollen, also einen Selbsterhaltungstrieb haben. Jetzt sind wir aber so klug, dass wir wissen, dass wir eines Tages nicht mehr da sein werden. Und genau dieser Gegensatz birgt Potenzial für große Angst – Terror eben. Mit dieser Situation müssen wir jetzt umgehen.

Redaktion: Und wie gehen wir damit um?

Dr. Simon Schindler: Hier kommen zwei Faktoren ins Spiel: Das eigene Weltbild, das stark kulturell bedingt ist, und das Selbstwertgefühl. Die beiden Sachen gilt es ständig zu bestätigen und zu erfüllen. Wenn uns das gelingt, können wir uns vor der Todesangst schützen.

Redaktion: Heißt das, dass unser Verhalten aus Kompensations-Strategien besteht? Können Sie das etwas konkreter machen?

Dr. Simon Schindler: Nehmen wir das schreckliche Beispiel eines Terroranschlags. So ein Ereignis konfrontiert den Menschen extrem mit der eigenen Sterblichkeit. In solchen Situationen zeigen Menschen verstärkt Verhaltensweisen, die ihr Weltbild und ihr Selbstwertgefühl widerspiegeln. Wenn mir Religion wichtig ist, dann werde ich verstärkt in diesen Bereich investieren. Beten, Texte lesen oder eine Gebetsstätte besuchen. Liegt einem die Familie besonders am Herzen, wird man dementsprechend mehr Zeit mit der Familie verbringen. Wenn ich Karrierist, habe ich jetzt noch mehr Ansporn, beruflich Gas zu geben. Das hängt vom persönlichen Weltbild ab. Gleichzeitig birgt dieses Verhalten aber auch eine Menge Konfliktpotenzial.

Redaktion: Wieso das?

Dr. Simon Schindler: Wir versuchen uns mit unserem Verhalten vor der Angst vor dem Tod zu schützen. Dieser Schutz gerät aber ins Wackeln, wenn andere etwas anderes glauben. Das kann beispielsweise eine Frage der Religion sein oder eine Frage der politischen Überzeugung. Wofür sind wir? Und wogegen? Da brennt schnell die Hütte und es hat oftmals mit der eigenen Vergänglichkeit zu tun. 

Redaktion: Gibt es spezielle kulturelle Faktoren, die insbesondere in Deutschland eine Rolle spielen?

Dr. Simon Schindler: Die politische Polarisierung, die wir aktuell erleben, kann man in der Wissenschaft als einen Ausdruck dieser Schutzmechanismen betreffend der eigenen Sterblichkeit erklären. Und dass, obwohl wir in Deutschland gar keine akute Konfrontation mit Sterblichkeit haben. Gäbe es jetzt eine solche Konfrontation etwa in Form eines Anschlags, würde sich diese Tendenz der politischen Polarisierung verstärken. Ein ganz extremes Beispiel für diesen Prozess war beispielsweise 9/11.

Redaktion: Inwiefern?

Dr. Simon Schindler: Wir hatten es in den USA mit einer massiven kollektiven Mortalitätssalienz zu tun, wie man das in der Forschung nennt. Also das sich Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit. Forscher haben diese Auswirkungen untersucht und festgestellt, dass in den USA hergestellte Produkte verstärkt konsumiert wurden. Gewissermaßen, um die eigene Wirtschaft, das eigene Land zu stärken. Patriotismus wurde stärker. Auch der Ruf nach Invasionen in Afghanistan und dem Irak war eine Reaktion. Letztlich kann man das alles gut auf die Furcht vor der eigenen Sterblichkeit und die entsprechenden Schutzmechanismen zurückführen. 

Redaktion: Der Tod ist vollkommen selbstverständlich und gehört untrennbar zum Leben dazu. Warum wird dieses Thema trotzdem oft tabuisiert und aus der Öffentlichkeit gehalten?

Dr. Simon Schindler: Wir könnten natürlich sagen: „Wir wissen ja, dass wir sterben. Und Menschen sterben jeden Tag zu Hauf. Daran kann man sich ja eigentlich gewöhnen.“ So einfach ist es aber natürlich nicht. Denn unser Selbsterhaltungstrieb ist einfach sehr stark. Und das Wissen, dass sowohl wir als auch die Menschen, die uns umgeben, eines Tages nicht mehr da sein werden, ist eine extreme Bedrohung unserer Grundfeste. Diese Bedrohung müssen wir ständig in Schach halten, wenn wir ein funktionierendes Leben führen wollen. Wenn einem das nicht gelingt, können Depressionen die Konsequenz sein. Also sind wir auf diesen Schutz wirklich angewiesen.

„In all den Experimenten und Seminaren, die ich zu dem Thema durchgeführt beziehungsweise gegeben habe, konnte ich immer wieder beobachten, wie sachlich wir mit dem Thema Tod in der Regel umgehen können.”

Wir reden ja auch gerade ohne Panik über den Tod. Die Reaktion ist selten: „Oh Gott, ich hatte ja ganz vergessen, dass ich sterbe und das wird mir gerade erst wieder klar.“ Bei Beerdigungen etwa ist das auch aufgrund der starken Emotion etwas anders. Aber außerhalb dieser Situationen schaffen wir es in der Regel sehr gut, nüchtern und abstrakt mit dem Thema umzugehen. 

Redaktion: Es gibt ja auch Kulturen, die augenscheinlich ein positiveres und offeneres Verhältnis zum Tod haben. Wieso können die das und wir nicht?

Dr. Simon Schindler: Nehmen wir als Beispiel das mexikanische Totenfest: Da ist der Tod fest in die Kultur integriert. An dem Tag putzen die Leute das Haus, bereiten Essen vor und erwarten den Besuch der Toten, mit denen sie dann gemeinsam feiern. Hier haben wir es mit einer wörtlichen Unsterblichkeit zu tun. Denn die Verwandten leben noch in einer spirituellen Welt weiter und können nachhause kommen. Das ist der ultimative Schutz vor der eigenen Sterblichkeit. Genau das ist auch der zentrale Punkt von vielen Religionen: „Es geht weiter!“ Das kann natürlich auch je nach Glauben in der Hölle sein, was etwas unglücklich ist. Aber auch eine Art Paradies haben ja viele im Angebot. Da sieht man deutlich das ultimative Schutzpotenzial von Religion. Genau daher resultiert auch das angesprochene Konfliktpotenzial. 

Redaktion: War das bei uns auch mal so und hat sich nur mit der Zeit gewandelt?

Dr. Simon Schindler: In den westlichen Ländern, also auch in Deutschland, gab es natürlich eine Säkularisierung. Die Religion nimmt dementsprechend eine deutlich weniger wichtige Rolle ein. Das heißt aber nicht, dass wir keine Schutzmechanismen mehr haben. Wir haben uns einfach anderen Schutz gesucht. Etwa über den Sportverein, der meine Identität mit bestimmt, oder eine politische Gruppierung. Genauso wie Familie oder der Beruf. Hinzu kommt, dass wir keine existenziellen Bedrohungen wie Hunger oder Krankheit haben. Ich meine damit Epidemien wie Pocken oder die Pest. Damals haben die Menschen tagtäglich im Umfeld gemerkt, dass es sie jederzeit als nächsten treffen kann. Sowas gibt es natürlich bei uns nicht mehr.

„Daher haben wir zwar sicherheits-technisch ein anderes Level erreicht, aber der Tod spielt nichtsdestotrotz immer noch eine große Rolle. Und wir müssen lernen, mit ihm umzugehen.“

Redaktion: Das heißt, dass wir letztendlich gewissermaßen alle, ganz unabhängig von Überzeugung und Werten, mit demselben Ziel agieren?

Dr. Simon Schindler: So ist es – zumindest gemäß dieser Theorie. Wir versuchen immer, uns zu schützen, indem wir unser Weltbild ausleben. Wie sich dieser Schutzmechanismus am Ende ausgestaltet, ist also ganz unterschiedlich. Einzige Voraussetzung: Wir wollen, dass andere dieses Weltbild teilen und nicht damit alleine sein. Sonst funktioniert der Schutz nämlich nicht. 

Redaktion: Glauben Sie, dass eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema Tod eine Lösung für diese gesamte Problematik ist?

Dr. Simon Schindler: Aus wissenschaftlicher Sicht ist das bisher noch nicht umfassend untersucht worden. Das heißt aktuell ist es aus meiner Sicht eher eine Art Wunschdenken, dass das eine Lösung wäre. Ich bin beispielsweise auch ausgebildeter Hospizbegleiter und konnte bisher nicht feststellen, dass ich dadurch ein geringeres Schutzbedürfnis vor dem Tod hätte. Bisher haben wir noch keine konkrete Evidenz für diese Vermutung.

Redaktion: Herr Schindler, vielen Dank für Ihre Zeit und die spannende Ausführungen.

Dr. Simon Schindler: Sehr gerne, nichts zu danken.

Titelbild: ©Simon Schindler

1 Kommentar

  1. […] Der Tod, so scheint es, lässt den Menschen auch im Leben nicht los. Ebenso die Suche nach der Unsterblichkeit. Aber bis die Menschheit einen Weg gefunden hat, den Tod zu besiegen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich mit ihm auseinanderzusetzen. Wie das genau funktioniert und wie unsere Furcht vor dem Tod unser Verhalten beeinflusst, darüber haben wir mit dem Sozialpsycholo… […]

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