Prof. Ortwin Renn: „Ein Leben ganz ohne Risiko wäre langweilig“

Ortwin Renn

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risk, no fun. Wer kennt diesen Satz nicht? Doch was ist eigentlich Risiko und was riskant? Entspricht bewusste Gefahr einem kalkulierten Risiko? Oder bedeutet das in Wirklichkeit etwas ganz anderes? Wir sprachen mit dem Risikoforscher Ortwin Renn, um dem Begriff und der Bedeutung dahinter auf den Grund zu gehen.

Redaktion: Herr Professor Renn, Sie sind Risikoforscher. Beschreiben Sie uns doch bitte einmal Ihr Berufsbild.

Ortwin Renn: Um diesen Beruf wirksam ausfüllen zu können, ist eine interdisziplinäre Kompetenz notwendig. Man muss sich also mit den technischen und statistischen Risikoanalysen, aber auch mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen vor allem bei den Naturgefahren und ökologischen Gefährdungen auskennen. Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, wie Menschen auf Risiken reagieren – das sind die Domänen von Psychologie, Anthropologie und Soziologie. Und schließlich das Wissen, wie Risiken reguliert und gemanagt werden. Hier kommen Politik- und Rechtswissenschaften mit ins Spiel. Sie sehen, es sind also viele Disziplinen gefragt. Das macht Risikoforschen nicht einfach, aber auch attraktiv.

Redaktion: Wie definieren Sie das Wort Risiko? Ist das Wort gleichbedeutend mit Gefahr?

Ortwin Renn: Nein, eine Gefahr im Deutschen ist eine bestehende Bedrohung, die jederzeit einen Schaden auslösen kann. Das Risiko ist dagegen ein Konzept für mögliche Bedrohungen, Es kann zu einer Gefahr werden, wenn sich die Bedingungen für den Eintritt des Risikos verdichten. Ein Beispiel: Wir können uns auf das Risiko einstellen, dass ein Meteorit unser Haus trifft. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist sehr gering. Aber wenn wir beobachten, dass ein Meteorit mit großer Geschwindigkeit auf die Erde zurast, wird das Risiko zur konkreten Gefahr. Dann mag es zu spät sein, um sich noch gegen diese Gefahr zu wappnen.

Daher ist es durchaus sinnvoll, dass wir uns auf mögliche Gefahren einstellen, bevor sie sich manifestieren. Denn: von einer Millionen unwahrscheinlichen Ereignissen, werden mit großer Sicherheit einige wenige eintreten, wir wissen aber nicht welche.

Risikoanalysen helfen uns, aus den vielen möglichen Bedrohungen diejenigen zu identifizieren, die unter verschiedenen Annahmen zu künftigen Entwicklungen (Szenarien) zu realen Gefahren werden können und was wir tun können, um diese Risiken zu vermeiden oder deren Auswirkungen abzumildern.

Redaktion: Dadurch verliert das Wort seine negative Behaftung.

Ortwin Renn: Richtig. Ein Risiko weist auf mögliche Ereignisse hin, die auf etwas einwirken, was wir Wert schätzen. Das kann auch durchaus positiv sein, betrachten wir beispielsweise den Aktienmarkt. Auch hier sprechen wir von Risiko, und meinen damit mögliche Gewinne und Verluste. In der Regel assoziieren wir mit Risiken aber Konsequenzen, die etwas im negativen Sinn beeinträchtigen. Ganz wichtig: Mit dem Risiko ist der Wunsch verbunden, das Wertgeschätzte zu schützen.

Redaktion: Ab wann sprechen Sie von einem Risiko?

Ortwin Renn: Wenn man genau hinsieht, ist – trivial formuliert – alles riskant. Theoretisch könnte es immer sein, dass vor Ihrer Tür ein Mensch mit Messer steht und sie bedroht. Das ist weder wahrscheinlich noch völlig ausgeschlossen.

Risiken sind stets mit unsicheren Konsequenzen verbunden. Wären uns diese immer bewusst, würde sich niemand mehr aus dem Haus wagen. Für Dinge, die in unserem Leben mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit eintreten werden, ist es daher wichtig, Vorsorge zu treffen.

Die Risikowahrnehmung führt uns dabei manchmal in die Irre, weil wir kleine Risiken überschätzen und manche große Risiken unterschätzen. Letztendlich macht es aber Sinn, individuell und auch als Gemeinschaft Vorsorge zu treffen. Ich muss mich fragen: welche Risiken gehe ich ein, wenn ich beispielsweise den Beruf wechsle, heirate oder das neue Auto kaufe. Die Zukunft ist unsicher aber ich kann einiges unternehmen, um mögliche negative Konsequenzen soweit wie möglich zu reduzieren.

Redaktion: Nach welchen Risiken unterscheiden Sie?

Ortwin Renn: Es gibt Naturrisiken wie Überschwemmungen oder Erdbeben, technologische Risiken wie Kernkraftwerke, zivilisatorische- und Verhaltensrisiken, wie beispielsweise das viele Sitzen im Büro und daraus resultierend ein Mangel an Bewegung. Die Konsequenzen sind unterschiedlich, die Ereignisse bedrohen allerdings stets etwas, das wir wertschätzen.

Redaktion: Inwieweit hat sich das Risiko im Alltag über die Zeit verändert? Sind wir in Zeiten von Blitzableitern, Sicherheitsgurten und Versicherungen risikoärmer oder hat sich das Risiko nur auf andere Bereiche verlagert?

Ortwin Renn: Es kommt darauf an. Da Risiken all das bedrohen, was wir wertschätzen, ist das Feld natürlich nach wie vor sehr breit. Beziehen wir uns auf Leben und Gesundheit, dann sind diese Risiken für Bewohner unseres Landes und der meisten OECD Länder ständig gesunken. Selbst in der aktuellen Situation von COVID-19. Sowohl die Pest als auch die spanische Grippe hatten ganz andere Ausmaße, was die Summe der geschädigten Personen betrifft.

Betrachten wir die durchschnittliche Lebenserwartung nimmt das Risiko, gewaltsam oder durch Krankheit ums Leben zu kommen, stetig in Deutschland ab. Das gilt selbst für Krankheiten, wenn wir das Alter konstant halten. Die 50 Jährigen sind heute gesünder als die gleiche Altersgruppe vor 50 Jahren. Das ist eine große Errungenschaft der Modernisierung. Von 10.000 Menschen in Deutschland werden etwa 9.500 ihr 60. Lebensjahr erreichen. Das ist in der Biologie bei keinem anderen Lebewesen der Fall.

Was man als Risiko wahrnimmt, hängt davon ab, was man beobachtet.

Infektionskrankheiten waren in Deutschland kaum im Visier. Heute haben die meisten Infektionen – abgesehen von der Pandemie – ihren großen Schrecken verloren. Befragt man Leute über deren Risikowahrnehmung antworten die meisten, sie hätten den Eindruck, die Risiken für Individuen seien insgesamt angestiegen, Kennt der oder die Befragte jemanden, der beispielsweise in einem Verkehrsunfall sein Leben verloren hat, wird er oder sie nicht die Statistiken der letzten Jahre nachverfolgen und überprüfen, ob die Zahl der Verkehrsopfer zurückgegangen ist, sondern nimmt das Ereignis des erlebten Unfalls als Anker für die Einschätzung der Höhe des Risikos.

Das Risikoempfinden hinkt häufig den tatsächlichen Risikoverläufen hinterher.

Das früher drei von 10 Kindern unter 20 Jahren gestorben sind, war für die betroffenen Familien normal. Auch wenn heute die Kindersterblichkeit dramatisch zurückgegangen ist, ist das Risikoempfinden nicht ausgeprägt, da entsprechende Ereignisse immer als Einzelfall empfunden werden.

Redaktion: Welche Risiken werden Ihrer Meinung nach unterschätzt? Am Beispiel COVID-19, geht mit der Zeit automatisch ein unterschätztes Risiko einher?

Ortwin Renn: Eindeutig ja. Man gewöhnt sich schnell an Risiken, so wie wir eine Grippewelle als normalen Begleitumstand des Winters erleben und erst jetzt in der neuen COVID Kreise merken, dass auch Grippe gar nicht so harmlos ist. Gleichzeitig gibt es die Re-Kalibrierung der Wirklichkeit. Normal wird das, was wir über lange Zeit als neuen Standard erleben. Ändert sich der Standard, re-kalibriert sich dieser.

Würden wir über die nächsten Jahre keinen Impfstoff finden, bin ich überzeugt, dass wir uns auch an Corona gewöhnen werden und die Krankheit ihren subjektiv empfundenen Schrecken verlieren wird.

Beispielsweise gewöhnen sich Leute in gewissen Ländern auch an hohe Kriminalitätsraten. Denn: Kein Mensch kann immer nur in Angst leben. Das bedeutet jedoch kein geringeres Risiko. Es wird nur alltäglich.

Redaktion: Was sind denn in unserer Gesellschaft die größten Alltagsrisiken?

Ortwin Renn: Von der statistischen Seite betrachtet haben wir vier Volkskiller. Diese umfassen Rauchen, Alkohol trinken, ungesunde Ernährung und Bewegungsarmut. Untersuchungen zeigen, dass Leute, die dies vier Gewohnheiten teilen, bis zu 17 Jahre Lebenszeit verlieren. Diese Spanne ist beachtlich. Nach den vier Volkskillern kommt statistisch gesehen lange nichts. Unter den Umweltrisiken seht die Luftverschmutzung ganz vorne an. Aber das Risiko, durch Feinstaub ums Leben zu kommen, ist mehr als fünfmal geringer als etwas das Risiko durch Rauchen. Die vier Volkskiller werden in ihrem Ausmaß häufig unterschätzt. Daher benötigen wir bessere Aufklärungen über den relativen Anteil unterschiedlicher Risiken auf unsere Lebenserwartung.

Redaktion: Interessant, da bei dem Wort Risiko wohl die meisten häufig an Feuerwehrleute denken, die brennende Häuser betreten oder Gleitschirmfliegen. Tatsächlich scheinen die genannten alltägliche Risiken deutlich gravierender zu sein. Jemand der übermäßig raucht oder Alkohol konsumiert würde möglicherweise nie das Risiko eingehen Rennwagen zu fahren.

Ortwin Renn: Da ist viel dran. Gewisse Aktivitäten sind punktuell riskant. Allerdings ereignen sich bei den als ungefährlich geltenden Sportarten oft deutlich mehr Unfälle. Ist die Aktivität als potentiell gefährlich erkannt, sind die Sicherheitsmaßnahmen entsprechend höher. Die Wahrscheinlichkeit sich beim Fußballspielen tödlich zu verletzten ist zwar gering, das Verletzungsrisiko insgesamt ist allerdings viel höher als bei den meisten Extremsportarten. Der Nervenkitzel ist beim Bungee Jumping immer präsent, obwohl natürlich drei Sicherheitsseile gespannt sind. Hier ist die Lust am Risiko das Hauptmotiv. Dagegen trinkt niemand Alkohol, weil er das Risiko ausprobieren möchte, wie es sich anfühlt, wenn ich an Nierenversagen leide.

Redaktion: Inwieweit gehen Sie selbst Risiken ein. Hat sich die Einstellung durch Ihre Arbeit geändert?

Ortwin Renn: Der Beruf Risikoforscher hilft, Rückschlüsse auf das eigene Leben zu ziehen. Geraucht hatte ich glücklicherweise noch nie, bei Alkohol achte ich auf Konsum in Maßen. Außerdem versuche ich mich ausreichend zu bewegen. Das heißt allerdings nicht, dass es immer gelingt. Bei den vier Volkskiller bin ich auch zeitweise zu lasch. Ein Leben ganz ohne Risiko ist aber auch langweilig. Mein Motto lautet daher: Wenn ich ein Risiko eingehe, muss es sich auch lohnen. Für die anderen oder für mich. Um Risiken nur aus Nachlässigkeit einzugehen, dafür ist mir mein Leben zu schade.

Titelbild: © Lotte Ostermann

Über unsere Expertin

Prof. Dr. Dr. Ortwin Renn

Professor Renn ist seit dem 1. Februar 2016 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie” an der Universität Stuttgart. Zudem gehört er zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten, Kuratorien und Kommissionen an. Zu den Publikationen von Ortwin Renn gehören über 30 Monografien und editierte Sammelbände sowie mehr als 250 wissenschaftliche Artikel.

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